Die österreichische Vergangenheit
Präteritum und Perfekt im österreichischen Deutsch
Ein auffälliger Unterschied zwischen dem österreichischen Deutsch und dem in Deutschland üblichen Deutsch ist die Bildung der Vergangenheitsform in der gesprochenen Sprache. Wer für eine österreichische Zielgruppe schreibt, kann ihn geschickt als Stilmittel einsetzen.
In Österreich spricht man anders als in Deutschland. (Ja, richtig, sprachlich betrachtet müsste man Bayern zu Österreich rechnen und Vorarlberg zur Schweiz und noch viele andere Feinheiten berücksichtigen, aber aus Gründen der Einfachheit lassen wir das einfach einmal außen vor.) Nehmen wir dieses Beispiel:
Als ich morgens zur Arbeit ging, fiel mir ein blauer Lieferwagen auf, der falsch parkte.
Diesen Satz würde eine Österreicherin so vielleicht bei der Polizei schriftlich zu Protokoll geben, aber sie würde ihr Erlebnis so nie jemandem erzählen. Ein Deutscher dagegen würde so einen Satz durchaus auch mündlich artikulieren. Die Österreicherin würde ihr Erlebnis eher so schildern:
Als ich in der Früh in die Arbeit gegangen bin, ist mir ein blauer Lieferwagen aufgefallen, der falsch geparkt hat.
Sie verwendet das Perfekt. (Und sie sagt „in der Früh“ statt „morgens“, ein subtiler Unterschied im Vokabular.) In Österreich, so kann man zumindest ohne wissenschaftlichen Anspruch behaupten, spricht man nicht im Präteritum. Ausnahmen sind die Verben „wollen“ und „sein“. Die Vergangenheit wird, wie in vielen anderen Sprachen üblich, zweiteilig gebildet: „ich bin gegangen“ statt „ich ging“ und „mir ist aufgefallen“ statt „mir fiel auf“. Wir sprechen also meist im Perfekt, schreiben aber im Präteritum. Einen Unterschied in der Bedeutung gibt es – im Gegensatz zu anderen Sprachen – nicht. Diese Besonderheit ist kein „Fehler“ oder einen „Mangel an Korrektheit“, sondern eine Eigenheit unserer Varietät des Deutschen. Und für uns Schreibende, die wir ja für eine österreichische Zielgruppe Text produzieren, ist diese Eigenheit sehr nützlich. Die „österreichische Vergangenheit“ lässt sich nämlich gezielt einsetzen, um wörtliche Zitate lebendiger und authentischer wirken zu lassen.
Gerlinde Maier, Augenzeugin und Angestellte im Supermarkt nahe des Tatorts, bestätigte den Vorfall. „Als ich morgens zur Arbeit ging, fiel mir sofort etwas auf“, berichtete sie. „Dort stand ein blauer Lieferwagen, der falsch parkte.“
Dieser Text ist völlig in Ordnung, aber die direkte Rede klingt für österreichische Ohren eher wie ein Auszug aus einem Kriminalroman als ein mündlicher Augenzeugenbericht. Indem man das Präteritum durch das Perfekt ersetzt, wird das Zitat plötzlich viel echter:
Gerlinde Maier, Augenzeugin und Angestellte im Supermarkt nahe des Tatorts, bestätigte den Vorfall. „Als ich in der Früh zur Arbeit gegangen bin, ist mir sofort etwas aufgefallen“, berichtete sie. „Dort ist ein blauer Lieferwagen gestanden, der falsch geparkt hat.“
Es entsteht ein Eindruck von Nähe. Gerlinde Maier wird zu einer lebendigen, authentischen Person, die so spricht, wie wir das üblicherweise auch tun. In vielen Textsorten, besonders PR-Texten und Presseaussendungen, lässt sich die „österreichische Vergangenheit“ gezielt einsetzen, um zitierte Personen emotional näher, greifbarer und sympathischer wirken zu lassen. Während der Fließtext durchgängig im Präteritum gehalten ist – er ist ja „schriftlich –, sprechen alle Personen im Perfekt.
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